Ein aktueller Blog von Micha Heitkamp
Jannes hat in seinem Text gestern die Demonstrationen am Hambacher Forst als neue soziale Bewegung dargestellt, die die SPD erkennen lassen sollte, dass die ökologische Frage auch die soziale Frage sei. Unrecht hat er grundsätzlich nicht. So ganz stehen lassen will ich seinen Text aber auch nicht. Eine Antwort darauf.
In einem sind sich wohl alle einig: Die Debatte um den Hambacher Forst ist eine Debatte über ein Symbol. Denn eigentlich ist doch allen klar, dass die Frage, ob sich der Klimawandel aufhalten lässt, nicht von der Rodung eines Waldstückes abhängt. Zumal weltweit die Anzahl der Kohlekraftwerke sogar immer weiter steigt und der Erfolg von Klimapolitik nur global messbar sein wird. Deshalb ist es gut, dass es in Deutschland einen Konsens gibt, dass dem Ausstieg aus der Atomkraft der Ausstieg aus der Kohle folgen soll (abgesehen von der rechtsradikalen AfD, die ja bekanntlich nicht an den Klimawandel glaubt). Möglich geworden ist das übrigens nur durch politische Beschlüsse. Das ist wichtig festzuhalten, weil es einen entscheidenden Denkfehler der weit verbreiteten Marktgläubigkeit offenlegt: Nicht die Märkte schaffen die Innovation. Die Energieriesen hatten es sich im Status Quo einfach bequem gemacht. Damit der technologische Fortschritt marktfähig wurde, brauchte es erst einen handlungsfähigen und auf Druck demokratischer Prozesse entscheidungsfreudigen Staat. Die Parallele zu den Versäumnissen der Autokonzerne ist offensichtlich.
Nun, die Debatte um das Symbol Hambacher Forst scheint jetzt entschieden zu sein. Gerichtlich, nicht politisch. Zu verdanken hat man das sicherlich dem mal wieder wenig nachvollziehbaren Handeln der schwarz-gelben Landesregierung von Armin Laschet. Die Begründung, die Protestcamps müssten aus „Brandschutzgründen“ geräumt werden, war irgendwie auch schon von Anfang an lächerlich…
Ich muss sagen, dass es mir als Sozialdemokrat die ganze Zeit über schwergefallen ist, mich mit den Protesten im Hambacher Forst zu solidarisieren. Das begann schon bei den Berichten von tätlichen Übergriffen einiger Demonstrierender auf Beschäftigte von RWE. Was bitte soll daran links sein, Menschen anzugreifen, die ihre Arbeitskraft unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen den Eigentümer*innen von Produktionsmitteln zur Verfügung stellen? Da wäre doch tatsächlich mal ein Marx-Lesekreis im Baumhaus von Nutzen gewesen.
Hier hilft es vielleicht, an dieser Frage einen Moment zu verharren, gerade wenn es noch um die Zukunftsperspektiven der Sozialdemokratie gehen soll: Was heißt heute eigentlich links sein? Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im NRW-Landtag Monika Düker verbreitete gut gelaunt vom Protest am Hambacher Forst ein Plakat mit den Worten: „Ob Nazis oder Kohle – Braun ist immer Scheiße!“
Was sowieso schon aus einer Vielzahl von Gründen ein richtig merkwürdiger Vergleich ist, lädt die Menschen, deren Existenz von der Arbeit im Tagebau abhängt, ganz bestimmt nicht zu einem offenen Dialog über die Zukunft der Energieversorgung ein. Vor allem zeigt es aber, worum es Düker und wahrscheinlich auch einigen anderen, sich selbst als links sehenden Demonstrierenden geht: Es ist alles nur eine Frage der Identität. Nazis, Kohle: Das Böse. Wir: Die Guten. Ein gefühltes Auf-der-richtigen-Seite-stehen ersetzt die gesellschaftliche Analyse. Das ist vieles, aber ganz sicher nicht links. Ich bin weit davon entfernt, zu einem neuen Marx-Dogmatismus aufzurufen, aber wer den Widerspruch von Kapital und Arbeit durch Identität ersetzen will, singt das Lied der Konservativen.
An manchen Stellen wird dieser Zynismus wirklich unerträglich. Wenn etwa die Satire-Sendung Extra 3 ein Foto von einem unter Wasser stehenden Haus, aus dem eine Stimme „Immerhin. Ich habe einen Job!“ ruft ironisch mit „Gut, dass die Bundesregierung die richtigen Prioritäten setzt“ überschreibt. Sind das dieselben Medien, die sich sonst gerne mit Blick auf die wachsende soziale Unsicherheit gerne über die fehlende Anbindung der Volksparteien und vor allem der SPD zu Menschen beschweren, die sich von der Gesellschaft abgehängt fühlen? Aber hahaha, wie könnte man denn ernsthaft auf die Idee kommen, dass gute Arbeitsplätze für Menschen eine wichtige Priorität sein könnte? Selten so gelacht.
Die Menschen vor Ort können darüber wohl nicht mehr lachen, wie etwa die Aachener Nachrichten berichten. Zitat: „Der Anwohner erzählt auch, dass er vor wenigen Tagen die bis zu 150 Teilnehmer einer kirchlichen Demonstration offen gefragt habe, ob ihnen denn Bäume wichtiger als Menschen seien. ‚Als es um die Umsiedlung unserer Ortschaft ging, war niemand von Ihnen hier‘, habe er ins Mikrofon gerufen.“Symbolpolitik also, die an den Menschen vor Ort vorbeigeht.
Nein, da will keine Solidarität mit den Demonstrierenden entstehen bei mir. Und das nicht, weil ich Klimapolitik nicht als enorm wichtiges Thema sehe – im Gegenteil: Das Funktionieren der Energiewende gehört zu den größten Herausforderungen, der sich die Politik derzeit zu stellen hat. Deshalb hatte Sigmar Gabriel Recht, als er 2013 das Thema Energie ins Wirtschaftsministerium holte, um es zur Chefsache zu machen. Nur ist, wie so oft in den Jahren sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung unter Kanzlerin Merkel, zu wenig gefolgt aus einem richtigen Instinkt. Man hatte den Eindruck, dass Klimapolitik von der SPD eher verschwiegen als betont werden sollte. Anders lässt es sich nicht erklären, dass zum Beispiel die Erfolge von Barbara Hendricks als Umweltministerin im Wahlkampf 2017 überhaupt gar keine Rolle gespielt haben.
Dabei wäre es so wichtig, dass die Sozialdemokratie hier um Deutungshoheit ringt. Denn wenn Sozialdemokrat*innen von Energiewende sprechen, meinen sie damit etwas anderes als viele Grüne. Jannes schreibt in seinem Text, dass die Klimafrage auch eine Gerechtigkeitsfrage sei und hat damit Recht. Wenn die Energiewende ein Projekt von Eliten wird, das an den Menschen vor Ort und ihren Bedürfnissen vorbei geht, wird das gesamte Projekt scheitern. Was das heißt, Energiewende als sozial-ökologische Transformation zu denken und wie man soziales und grünes Wachstum zusammenbringt statt es gegeneinander auszuspielen, hat Felix vor mehreren Jahren in einem noch immer lesenswerten Blog festgehalten.
Aber genau das ist es, was mich an der Debatte um den Hambacher Forst stört: Hier wird nichts zusammengedacht, sondern es werden von außen Forderungen herangetragen, die an den Menschen vor Ort vorbeigehen.
So weit, so gut? Bei weitem nicht! Denn das Symbol Hambacher Forst ist damit noch lange nicht entschlüsselt. Denn die oft verbreitete Position, die SPD müsse sich einseitig und unmissverständlich für die Arbeitnehmer*innen im Tagebau, damit gegen die Proteste und für die Abholzung des Hambacher Forstes positionieren, funktioniert genauso wenig. Ich mache Politik in Ostwestfalen-Lippe, also fernab der Kohle-Romantik, die man manchmal im Ruhrgebiet zu hören bekommt. Und aus den Gesprächen mit Leuten sowohl innerhalb als auch außerhalb der SPD bin ich mir sicher, dass die Zahlen vom WDR authentisch sind, dass fast 80 Prozent der Menschen in NRW für den Bestand des Hambacher Forstes sind.
Ich spotte gerne über Grünen-Fraktionsvorsitzende, oberflächliche Satire-Sendungen oder Berufsdemonstrierende. Aber die Gespräche mit Menschen aus meinem Umfeld haben mich dann doch etwas demütiger gemacht. Dieses Symbol Hambacher Forst scheint doch für viele Menschen eine starke Wirkungskraft zu haben. Das hat mich zu der Frage geführt: Wie kann ausgerechnet dieses kleine Waldstück so eine große Wirkung erzielen in Zeiten, in denen es so viele gesellschaftliche Verwerfungen gibt? Und warum schafft aller Analyse zum Trotz die Sozialdemokratie es nicht mehr, die Themen zu setzen, die eine „Ich stehe auf der richtigen Seite“-Wirkung entfalten?
Der Soziologe Heinz Bude beschreibt in seinem Buch „Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen“ die Gruppe der „heimatlosen Antikapitalisten“. „Ultraliberale und Restkommunisten, enttäuschte Sozialdemokraten und verstummte Christdemokraten, antideutsche Globalisten und biodeutsche Territorialisten“ finden sich in ihr. Das einende dieser breiten Querfront ist keineswegs eine gemeinsame Ideologie oder eine gemeinsame Organisation. Vielmehr handelt es sich beim heimatlosen Antikapitalismus um eineaus der Neoliberalisierung des Kapitalismus entstandeneStimmung, die von keiner politischen Sammlungskraft aufgefangen werden kann und deshalb eben heimatlos ist. In der derzeitigen Situation kann das schon gar nicht die grottenschlechte Performance der SPD in der Bundesregierung sein. Übrigens auch nicht Sarah Wagenknechts sogenannte „Sammlungsbewegung“, der trotz anderer Absicht schlichtweg die Basis dafür fehlt, wirklich irgendetwas zu sammeln.
Es hat bei mir ein bisschen gedauert, bis ich verstanden habe, dass die Stimmung zum Hambacher Forst nicht getrieben ist von der Sorge über eine zu langsam durchgeführte Energiewende, sondern von dem Eindruck, die Politik handele hier nur im Interesse oder gar im Auftrag eines einzelnen Großkonzerns.
Will die politische Linke wieder erfolgreich werden, muss sie in der Lage sein, diese Stimmung aufzunehmen, ihr eine Heimat zu bieten und vor allem in nach vorne gedachte Gestaltungsmöglichkeiten zu verwandeln.
Und wer sollte das können, wenn nicht die SPD? Ich weiß, ich kenne die Umfrage-Werte und ich lese auch viele schlaue Online-Kommentare, in denen es heißt, die SPD sei nicht mehr die leitende Kraft im linken Lager. Das lässt sich vielleicht in irgendwelchen Redaktionsbüros gut denken. Die Lage der SPD ist auch wirklich dramatisch und darf nicht schöngeredet werden. Vor allem muss klar sein, dass für diese Lage niemand anderes die Schuld trägt als die SPD selbst. Aber allen anderen alternativen linken Organisationen fehlt das Wichtigste: die Basis. Man kann als Wasserkopf vielleicht kurzfristig Wahlen gewinnen, aber wer langfristig die Gesellschaft verändern will, braucht viel mehr.
Bleiben wir in Minden-Lübbecke: Letzte Woche war ich in meinem Ortsverein Rothenuffeln beim Knobel-Abend. 25 Leute hatten sich dort eingefunden. Ob es Mitglieder der Linkspartei oder der Grünen in Rothenuffeln gibt? Keine Ahnung, habe ich noch nie von gehört! Die SPD ist im ganzen Kreisgebiet in der Lage, die verschiedensten Ansprüche an linke Politik zu sammeln: Vom 20-jährigen, über die Antifa geprägten Mitglied in Minden bis zum 70-jährigen, über Fragen im Dorf geprägten Mitglied in Stemwede. Wer das kaputt machen will, weil sie oder er schon immer irgendetwas besser wusste als die SPD oder in irgendeinem Thema von der SPD enttäuscht wurde, wird damit auch die Axt an die Mehrheitsfähigkeit von linker Politik insgesamt anlegen.
Also, die SPD ist es, der diese Stimmung nicht egal sein darf. Aber was heißt das? Zunächst einmal muss Schluss sein mit dem Irrglauben, gute Politik könne sich auf seriöse technokratische Arbeit in Ministerien beschränken. Das ist ein Bild von Politik, dass Heinz Budes zentrale Erkenntnis über die Macht von Stimmungen vollkommen ignoriert: Es gibt niemals Politik ohne Stimmungen. Wer ernsthaft glaubt, die Populist*innen machten Politik aus Stimmungen, Demokrat*innen hingegen aus Sachlichkeit, hat das Wesen der Demokratie nicht verstanden. Schluss mit dem Rumgeeiere, Mut zur klaren Position!
Konkret kann das in den aktuellen Fragen heißen:
Zum Autoren: Micha Heitkamp ist 28 Jahre alt, studiert Evangelische Theologie und ist Vorsitzender der Jusos OWL und stellvertretender Vorsitzender der SPD Minden-Lübbecke. Bei der Europawahl im nächsten Jahr kandidiert er für die SPD in Ostwestfalen-Lippe für das Europäische Parlament.